Die Nacht haben Christian und ich auf dem Parkplatz der Wimbachhütte verbracht. Hendrik, mit dem wir vorher im Zillertal unterwegs waren, musste wieder zur Arbeit. Es ist 5 Uhr früh. Wir sichten unser Material und los geht`s. Unsere Freunde auf der Hütte, Marion und Andre`, werden sich sicherlich schon Sorgen um uns gemacht haben. Eigentlich wollten wir ja auch schon Gestern da sein, aber leider wurden wir ein wenig aufgehalten. Heute sollte unser 1.Klettertag am Watzmann sein. Wir wollen vor um acht auf der Hütte sein, da die Zwei sonst sicherlich etwas allein unternehmen, wenn nicht sogar absteigen, weil wir nicht gekommen sind. Unser Tempo ist dementsprechend zügig. Als wir um eine Biegung kommen, steht plötzlich das Watzmannhaus (1.914 m) vor uns. Allerdings müssen wir uns ganz schön den Hals verrenken. Hoch über den Baumwipfeln thront diese, von hier unten, ziemlich winzig erscheinende Riesenhütte. Noch 1.300 Hm. Wir sind leicht konsterniert. Christian hat jetzt schon Schmerzen in den Knien, und er sagt, ich solle es allein versuchen. Er würde etwas langsamer gehen. Ich stapfe los.
Bemerkenswerter Weise ist unsere Kondition heute wirklich topp, denn schon nach knapp 2 Stunden schlage ich Andre` im Gewusel vor der Hütte auf die Schulter. Christian mit seinen Knieproblemen, ist eine halbe Stunde später da. Bemerkenswert deshalb, weil die Gehzeit mit knapp 4 Stunden angegeben wird. Da hatten sich unsere Eskapaden im Zillertal ja doch ein wenig gelohnt. Mit leuchtenden Augen berichten wir erst einmal von unseren „Heldentaten“. Ihre Begeisterung hält sich in Grenzen. Mit den Beiden gehen wir lieber nicht klettern, werden sie sich wohl gedacht haben.
Heute wollen wir es etwas ruhig angehen lassen, da die Hinaufrennerei doch ganz schön geschlaucht hatte. Bis zur Mittelspitze (2.713 m) wollen wir steigen, also etwa den halben Klettersteig auf dem Weg zur Südspitze (2.712 m). Es ist Hochsommer und die Sonne brennt heute dementsprechend. Das Gedränge ist riesig. Männer mit Turnschuhen und Taschentuch auf dem Kopf (mit einem Knoten an jeder Ecke), um sich vor der Hitze zu schützen (sieht sehr schick aus, besonders bei verschnupften Zeitgenossen), Frauen mit Pumps und Henkeltäschchen (was da wo drin ist) drängen sich mit uns auf dem Weg nach oben. Selten hat man einen ähnlichen Trauerzug auf einem Berg gesehen. Am Hocheck (2651 m), dem 1. von mehreren Gipfeln bei dieser Gratüberschreitung, werden zuerst die Handy`s rausgeholt und den nahen Verwandten von der schönen Aussicht berichtet. Da kann es einem schon vergehen, und man ist kaum in der Lage, die wundervolle Umgebung, mit der ihr entsprechenden Gebühr in sich aufzunehmen. Tja, die Berge sind nun mal für alle da. An der Mittelspitze angekommen, checke ich als erstes den Kletterführer. Die Wiederroute über die Westwand soll es morgen sein, und so schauen wir uns erst mal die Sache von oben an. Schon kommen auf „unserer“ Tour ein Ehepaar mit zwei 10-12-jährigen Kindern die Wand hoch spaziert. Ich frage den Vater gleich höflich nach Schwierigkeiten und ob man immer ein Seil braucht. Die Frage hätte ich mir sparen können, sie haben gar keins dabei. Und Schwierigkeiten gibt es überhaupt keine, es ist doch nur eine 3 (UIAA), sagt er, und stapft ungläubig davon. Aha, jetzt wissen wir also Bescheid. Wieder im Watzmannhaus angekommen, müssen wir fast um ein Nachtlager betteln. unsere DAV-Ausweise betrachtet der Wirt missbilligend. Heute kommt noch ein Spielmannszug (?), die hätten bestellt. Und wo ist dieses Sachsen-Irgendwo überhaupt. Ist das noch in Deutschland? Leider merkt er aber, dass unsere Ausweise scheinbar doch echt sind. Großzügigerweise bekommen wir „drittklassigen Hilfsdeutschen“ zähneknirschend dann doch ein Bett. Der Spielmannszug kommt wo heute doch nicht mehr. Wahrscheinlich hätte er jeden pestkranken Bayern lieber bewirtet, ihn bis aufs Zimmer gebracht und ihm noch kräftig die Hand geschüttelt.
Mit strahlenden Sonnenschein begrüßt uns der nächste Morgen. Der Weg zum Einstieg schlaucht mächtig. Wir müssen durch das ganze obere Watzmannkar. Eigentlicher Ausgangspunkt ist auch die Kührointhütte, aber was soll`s. nach 2 Stunden haben wir es endlich geschafft. Mehrere Seilschaften machen sich zum Einstieg fertig. Ein Einzelner macht sich hastig auf den Weg. Und promt beschmeißt er uns auch nach den ersten 50 Hm mit faustgroßen Steinen. Sie pfeifen an unseren Köpfen vorbei. Die Wand scheint sich regelmäßig ihrer überschüssigen Steine zu entledigen, so wie der gesamte Wandfuß aussieht. 150m türmt sich das Geröll die Wand hinauf bis zum Einstieg. Wir bilden 2 Seilschaften: Christian und Andre`, Ich und Marion. Ich steige als erster ein. Der Fels fühlt sich gut an, jedoch teilweise ziemlich brüchig. Vorsicht ist geboten. Doch es geht stetig aufwärts. Wir brauchen selten Zwischensicherungen. Ich mache mich immer unbeliebter, da ich ständig auf`s Tempo drücke und nur kurze Pausen machen will. Im Hinterkopf hämmert immer wieder unser 1.Biwak im Zillertal. Andre` und Marion interessiert das gar nicht, sie haben genug mit der zunehmenden Höhe zu kämpfen, und wollen sich nicht drängeln lassen. Dann kommt ein etwa 400 m langes schräges Band, für das diese Tour so bekannt ist. Laut meinem Führer kann man das Band mit den Händen in den Hosentaschen gehen. Christian und ich haben uns mittlerweise sehr gut an die Höhe gewöhnt. Ich gehe seilfrei über das Band, doch ich muss zurück, Marion und Andre` gehen nur am Seil, sagen sie. Also oben Stand bauen und nachholen, das ganze Band entlang. Ich schaue immer öfter nervös auf die Uhr. Die Zeit rinnt uns durch die Finger. Auf keinen Fall noch mal das gleiche Spiel wie am Fußstein. Ich dränge immer mehr zur Eile, und beschwere mich ständig, über das aus meiner Sicht übertriebene Sicherheitsbedürfnis meiner Seilpartner. Mein T-Shirt-Logo für heute lautet „Arschloch of the Day“. Ich merke nicht, das es durch mein Gemeckere nur noch schlimmer wird. Statt den beiden mehr Selbstvertrauen einzuhauchen, sie anzufeuern und die Ruhe zu bewahren, werde ich immer gereizter. Die Stimmung ist schlecht. Erst die Hälfte der 900 Klettermeter zurückgelegt und nur noch 2 Stunden hell. Schweigend spulen wir die nächsten Seillängen ab. Es geht jetzt besser. Die Route ist oben raus nicht mehr ganz so ausgesetzt. 17 Uhr! Noch 2 Längen. Wir haben 7 Stunden bis hierher gebraucht! Im Führer steht was von 3 Stunden bis zum Gipfel! Ich bin immer noch genervt. Meine Freunde betrachten hasserfüllt mein „neues T-Shirt“, und denken sich ihren Teil. Andre` steigt die letzten Meter. Alle oben. Schon wieder mit etwas freundlicheren Mienen reichen wir uns die Hand zum Berg Heil! Ein junger Kerl kommt von der Südspitze. Wir kommen ins Gespräch, und wir erzählen stolz von unserer Tour. Er ist aus Thüringen und gerade bei der Bundeswehr irgendwo in Bayern stationiert, und so irgend wie zum klettern gekommen, sagt er. Nebenbei ließ er uns wissen, das er gerade die 2.000m hohe Ostwand der Watzmann-Südspitze free-solo durchstiegen hatte! Offene Münder, Staunen! In der selben Zeit wie wir. In Ehrfurcht erstarrt blickten wir ihm nach. Nach 3 Monaten Klettern Watzmann-Ostwand solo! Naturtalent oder Einweisungspflichtig! Ich mahne wie immer zur Eile. Wieder starren Alle auf mein imaginäres T-Shirt. Es dämmert schon, wir haben keine Stirnlampen dabei, gebe ich zu bedenken. Schneller! Mein T-Shirt scheint Leuchtbuchstaben zu haben.
Wir setzen uns in Bewegung. Es ist stockdunkel, als wir die Hütte erreichen. Wir schultern unseren restlichen Krempel, und machen uns an den Abstieg. Nach der Hälfte der Strecke will keiner mehr weiter. Bei einer leerstehenden Schutzhütte richten Marion und Christian ihr Nachtlager her. Andre` und ich halten die ganze Zeit schon einen imaginären weißblechumhüllten zylinderförmigen, mit lebenswichtigen Inhaltsstoffen versehenden Gegenstand in unseren Händen, der bei näherem Hinsehen sich unserem Blickfeld entzieht und verschwindet, weil er 500 Hm tiefer in Andre`s Auto unter einem Berg von Klamotten kühl gelagert vor sich hin siecht und auf seine erlösende Bestimmung wartet. Die Erlöser blicken sich gerade energisch in die Augen und ballen die Fäuste. Wir Beide müssen da runter und jenen ominösen Gegenstand von seiner Pein befreien. Wir setzen uns in Bewegung. Es wird eine wahre Tortur. Straßenlärm und Licht dringt bis zu uns herauf aber wir glauben, dem kein Stück näher zu kommen. Nach einer Stunde verlässt uns unsere einzige Stirnlampe. Es will einfach kein Ende nehmen. Ich kann nicht mehr, hecheln wir uns immer öfter zu. Doch der Rausch der Sirenen klingt aus dem Kofferraum bis zu uns herauf. Weiter! Endlich! Auf allen Vieren schleppen wir uns über den Parkplatz. Fix und fertig streifen wir die Rucksäcke ab. Der Kofferraum springt auf. Verführerisches Zirpen. Meine Zunge hängt mir aus dem Hals, in den Kofferraum hinein, umschließt fest den goldigen Schatz. Da ist es! BIER!!! Wohltemperiert lassen wir es in unsere vertrockneten Kehlen glucksen. Ein oraler Coitus in Vollendung. Danke Welt, das ich hier sein darf! Am frühen Morgen wecken uns unsere Freunde. Mein 1.Alpenklettererlebnis neigt sich dem Ende. Ein Rucksack voller neuer Erfahrungen konnten wir danach unser eigen nennen. Ich hoffe natürlich, dass es immer so sein wird, nur vielleicht nicht ganz so dramatisch wie im Zillertal und etwas professioneller als am Watzmann.